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Bis einer heult - Tränen im frühen Mittelalter

Eine Ansammlung von Zwiebeln lässt Tränen strömen
Im Mittelalter wurde vor allem wegen der Sündhaftigkeit der Menschen geweint, aber sicher auch beim Zwiebelschneiden

Benedikt von Aniane musste seine Tränen mit beiden Händen auffangen, sie hätten ihm sonst die Heilige Schrift ruiniert. Der betende Otto III. weinte jede Nacht Ströme von Tränen, Sturzbächen gleich rannen sie über sein Gesicht. Ja, die Tränen flossen reichlich im Mittelalter. Viel und heftig geweint wurde nicht nur im stillen Kämmerlein, auch in aller Öffentlichkeit ließ man den Tränen freien Lauf. War der mittelalterliche Mensch emotionaler? Hatte er sich weniger im Griff? Eher im Gegenteil.

Tränen - ganz privat

In unserem Kulturkreis werden Tränen überwiegend abends vergossen, allein oder im Beisein einer nahestehenden Person. Und ja, Frauen weinen mehr als Männer, warum auch immer. Heftiges Weinen der Öffentlichkeit gilt als unangemessen, es signalisiert Schwäche und Instabilität. Die meisten Menschen versuchen, Tränen in der Gegenwart von Fremden zu unterdrücken. War das vor 1000 Jahren anders? Über Gefühlsausbrüche im privaten Bereich ist eine Aussage nicht möglich, darüber wissen wir nicht genug. Doch Menschen in allen Kulturen weinen beim Verlust eines geliebten Menschen, bei Abschiedsszenen generell. Es liegt nahe, dass das früher nicht anders war, auch wenn die Quellen dazu schweigen. Was das Weinen in der Öffentlichkeit angeht, gibt es allerdings Unterschiede.

Öffentliche Tränenausbrüche

Im Jahr 936 geschah folgendes: Mathilde, gerade Witwe geworden, betrat mit ihren Söhnen das Zimmer, in dem der Leichnam König Heinrichs I. aufgebahrt worden war. Sie weinte, ihre Söhne weinten, alle Umstehenden weinten, bis das Weinen der Witwe immer heftiger wurde und sie sich zu Füßen des Leichnams warf. Eine emotionale Ausnahmesituation. Wir erwarten geradezu, dass die Hinterbliebenen weinen. Das zu Boden sinken erscheint uns schon ein wenig theatralisch, aber das kann man noch durchgehen lassen. Doch Mathilde verhält sich hier so, wie eine Witwe, eine Königin zumal, sich zu verhalten hatte: trauernd, schon ganz der Aufgabe zugewandt, sich künftig um das Seelenheil des Verstorbenen kümmern zu müssen. Und das hieß: ein Kloster oder Stift gründen, die Leitung übernehmen und beten, beten, beten. Widukind, der den Vorgang in seiner Sachsengeschichte beschreibt, schildert hier nichts anderes als ein idealtypisches Verhalten der Königin. Genau genommen wissen wir nicht einmal sicher, ob sich die Szene wirklich so abgespielt hat. Und noch weniger können wir eine Aussage darüber machen, ob die Gefühle „echt“ oder inszeniert waren. Aber die Aufrichtigkeit spielte zu dieser Zeit auch keine Rolle. Wichtig war allein, dass man sich normgerecht verhielt, die Absicht, die dahinterstand, wurde nicht in Frage gestellt. Das sollte sich erst im 12. Jahrhundert ändern.

Als Otto I. im Jahr 954 seinem rebellischen Sohn Liudolf verzieh, war das ein öffentlicher Akt. Otto befand sich mit Gefolge auf der Jagd, als sein Sohn aus dem Gebüsch brach, sich ihm stammelnd zu Füßen warf, um Verzeihung bat, und den Vater und alle Anwesenden zu Tränen rührte. Weinen war typisch für solche Inszenierungen, denn um nichts anderes handelte es sich. Man kommunizierte mittels Gesten und Zeichen, die man dem Repertoire der Kirchenbuße entnahm: Barfüßigkeit, Stammeln, sich auf den Boden werfen und Tränen, immer wieder Tränen. Tränen machten die Reue des abtrünnigen Sohnes für alle sichtbar, Tränen in den Augen des Vaters signalisierten Verzeihen, Tränen bei allen anderen bedeuteten, dass sie den Deal akzeptierten. Damit war die Sache perfekt.

Beten und Weinen

Zu heftigsten Tränenausbrüchen kam es beim Beten. Wie beim bereits erwähnten Benedikt von Aniane, der seine Bibel mit Tränen wässerte, wenn er für sich allein betete. Oder der junge Kaiser Otto III., der sich die Nächte mit Beten und Weinen vertrieb. Oder der Abt des Klosters Corvey, der immerzu über seine eigene und die menschliche Hinfälligkeit aller anderen bittere Tränen vergoss. Die Sündhaftigkeit der Menschen konnte nur zu Tränen der Verzweiflung führen. Allerdings wurden solche Tränen in der Einsamkeit geweint, gehörte es doch zum Idealbild eines nach Heiligkeit strebenden Menschen nach außen eine gleichmütige Freundlichkeit zu zeigen. So wird auch Otto III. als äußerlich stets heiter beschrieben. Die Tränen blieben den dunklen nächtlichen Stunden vorbehalten. Die Quellen berichten über eine Vorliebe des Kaisers für asketische Übungen, auch soll er dem Mönchtum zugetan gewesen sein. Der plötzliche Tod Ottos III. mit nur 22 Jahren beeinflusste natürlich die Sichtweise der Chronisten, schien er doch eine Bestrafung für die Sünden des Kaisers. Da war es nur angebracht, vorher wenigstens Ströme von Tränen zu vergießen.

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