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Der Tod im Kornfeld


Wer von ignis sacer, dem Heiligen Feuer, befallen war, glaubte, innerlich zu verbrennen. Finger, Zehen, ganze Gliedmaßen wurden taub, verfärbten sich schwarz und fielen schließlich ab. Wer nicht an Infektionen starb, dem blieb nur ein elendes Leben. Lange hielt man das Heilige Feuer für eine ansteckende Krankheit, da sie stets lokal begrenzt und gehäuft auftrat. Aber das Heilige Feuer war keine Seuche, sondern eine Vergiftung mit dem Mutterkornpilz. Der Tod kam im Herbst mit der Getreideernte.

Roggen

Höllenfeuer

Der älteste Bericht über eine Massenvergiftung durch Mutterkorn steht in den Xantener Klosterannalen. Unter dem Jahr 857 findet sich der Eintrag: „Es wütete eine große Plage (plaga magna) mit Anschwellungen und Blasen unter dem Volke und raffte es durch eine entsetzliche Fäulnis hinweg, so dass Körperglieder sich ablösten und vor dem Tode abfielen.“ Ursache war Claviceps purpurea, der Mutterkornpilz, der die Blüten von Getreide und Gräsern befällt und zum Mutterkorn heranreift - einem violetten hornähnlichen Gebilde, das wie ein überdimensioniertes Korn aus den Ähren herausragt. Claviceps purpurea befällt bevorzugt Roggen, vor allem wenn es zur Blütezeit viel regnet. Bei der Ernte gerät das Mutterkorn dann unter das Getreide. Mutterkorn ist hochgiftig. Fünf bis zehn Gramm sind für den Menschen tödlich, als Maximaldosis gelten 0,1mg pro Kilogramm Körpergewicht täglich. Das ist nicht allzu viel. Der Giftgehalt ist im frisch geernteten Getreide besonders hoch, nach einigen Monaten Lagerung lässt die Konzentration deutlich nach. Erkrankungswellen traten daher meist im Herbst und nach Missernten auf, wenn der Roggen nicht eingelagert, sondern sofort gemahlen und verzehrt wurde. Kein Wunder, dass die Menschen des Mittelalters die Vergiftung als hochansteckende Seuche missdeuteten. Betroffen waren vor allem ärmere Bevölkerungsschichten, die sich weder den teureren Weizen leisten noch in Zeiten des Mangels Vorratshaltung betreiben konnten. Mit der Ausbreitung des Roggenanbaus in Mitteleuropa häuften sich dort die Vergiftungsfälle. Roggen ist anspruchsloser als Weizen, gedeiht auch in kälterem Klima und liefert selbst auf schlechten Böden noch gute Erträge.

Isenheimer Altar. Detail der Kreuzigung Christi. Die verkrampfte Hand wird als Hinweis auf das Heilige Feuer gedeutet.
Isenheimer Altar. Detail der Kreuzigung Christi. Die verkrampfte Hand wird als Hinweis auf das Heilige Feuer gedeutet.

Die Alkaloide, die der Mutterkornpilz produziert, führen zu starken Gefäßverengungen. Extremitäten werden nicht ausreichend durchblutet, färben sich schwarz wie bei einer schweren Erfrierung und können absterben. Es kann zu Atem- und Herzstillstand kommen. Man nennt diese Erscheinungsform der Vergiftung heute Ergotismus gangraenosus (ergot ist das französische Wort für Mutterkorn). Eine andere Form, bei der die Betroffenen zusätzlich schwere Krampfanfälle und Halluzinationen haben, wurde als Kribbelkrankheit, heute Ergotismus convulsivus, bezeichnet. Das führte zu erschütternden Szenen. Bei einem heftigen Ausbruch im Jahr 943 seien die Menschen schreiend, jammernd und sich krümmend auf der Straße zusammengebrochen, heißt es in einer Chronik. Manche rollten wie Räder durch das Zimmer, hatten Krämpfe, andere zeigten Zeichen plötzlichen Wahnsinns. Viele schrieen: „Feuer - ich verbrenne.“

Ein Wunderheiler wird gefunden

Die Versuchung des Heiligen Antonius. Der Heilige wird von Dämonen heimgesucht
Die Versuchung des Heiligen Antonius, um 1520, Jan Wellense de Cock (?)

Die Ursache war den Menschen lange Zeit nicht klar. Ärzte wussten keinen Rat, geholfen hätte es auch nicht viel, denn die Armen konnten es sich ohnehin nicht leisten, einen zu konsultieren. Also machte man, was man in solchen Fällen immer machte: Man bat einen Heiligen um Hilfe. Es war wohl Zufall, dass der heilige Antonius zum Zuständigen für die Linderung der Leiden wurde. Die Gebeine des Heiligen wurden von einem französischen Adligen, dem Grafen Geilin II., um 1070 aus Konstantinopel in ein Dorf bei Grenoble gebracht. Der Ort nannte sich später Saint-Antoine. 1089 wütete das Heilige Feuer in der Gegend und die Menschen pilgerten zum nächst erreichbaren Heiligen, eben zu Antonius. Nachdem es dort eine Wunderheilung gegeben haben soll, setzte ein wahrer Run auf den kleinen Ort ein. Die Masse der - meist mittellosen - Pilger war bald nicht mehr zu bewältigen und so schlossen sich um 1095 einige Laien zu einer Bruderschaft zusammen, um den Bedürftigen zu helfen. Mit Antonius war man an einen besonders wirkmächtigen Heiligen geraten, der schon zu Lebzeiten einige Heilungswunder vollbracht haben soll, oder korrekter: durch den Christus Wunder gewirkt haben soll. Dieser feine, aber entscheidende Unterschied war den meisten Menschen wohl nicht klar. Das Leben des Antonius wurde von Athanasius, Erzbischof von Alexandria, Bewunderer und Zeitgenosse des Antonius, überliefert. Antonius wurde um 250 als Sohn wohlhabender Christen in Ägypten geboren. Nach dem Tod seiner Eltern verschenkte er seinen Besitz und ging in die Wüste, um dort ein asketisches Leben zu führen. Er gilt als Begründer des christlichen Mönchtums. Mit 105 Jahren soll Antonius ein geradezu biblisches Alter erreicht haben, seine Grabstätte blieb jedoch auf seinen eigenen Wunsch hin unbekannt. 561 wurde schließlich ein Grab als das des Antonius identifiziert. 635 brachte man die Gebeine nach Konstantinopel, wo der bereits erwähnte französische Graf von Kaiser Romanos IV. die Erlaubnis erhielt, den größten Teil der Reliquien mitzunehmen. Ob es sich bei den Gebeinen wirklich um die des heiligen Antonius handelt, sei dahingestellt. Doch im Mittelalter war man da pragmatisch, wurden durch sie Wunder bewirkt, waren sie echt.

Himmlische und irdische Heilkunst

Isenheimer Altar

Altar des Antoniterklosters in Isenheim, bestimmt für die Kirche des Spitals. Man führte die Kranken vor den Altar und versprach sich von der Betrachtung der Bilder eine Linderung der Schmerzen. In der Mitte Altarschrein mit Antonius als Abt, flankiert von den Kirchenvätern Augustinus und Hieronymus. Links: Besuch des Antonius beim Einsiedler Paulus von Theben. Rechts: Antonius wird von Dämonen angegriffen.

Detail des Isenheimer Altars. Kranker mit aufgeblähtem Bauch, Pestbeulen und gangrösem Arm
Detail: Kranker mit Zeichen von Antoniusfeuer und Pest

Die Laienbruderschaft entwickelte sich in atemberaubendem Tempo. 1247 wandelte Papst Innozenz IV. sie in einen Orden um. Die Hauptaufgabe des Antoniterordens war es, Spitäler zu unterhalten und am ignis sacer, das bald Antoniusfeuer genannt wurde, Erkrankte zu betreuen und Verkrüppelte lebenslang zu versorgen. Die Antoniter waren der erste spezialisierte Krankenpflegeorden. Wer aufgenommen werden wollte, musste zunächst eine gründliche Untersuchung über sich ergehen lassen, um sicherzustellen dass der oder die Kranke auch wirklich am Antoniusfeuer litt. Dann folgte die Beichte. Die Insassen verpflichteten sich zu absolutem Gehorsam und einem Leben in Keuschheit. Teilnahme an den Gottesdiensten und eine tägliche Gebetsroutine vor dem Altarbild des heiligen Antonius waren obligatorisch. Im Mittelalter wurde Krankheit auch als göttliche Strafe für menschliche Verfehlungen gesehen. So wie Antonius die Dämonen überwunden hatte, sollten die Kranken ihre Leiden als göttliche Strafe annehmen und überwinden. Die zweite Säule der Therapie bestand aus Antoniuswein und Antoniusbalsam. Wein und Balsam enthielten Kräuter, die eine schmerzstillende und gefäßerweiternde Wirkung hatten. Zur Verstärkung der Heilkraft tauchte man noch die Reliquien des Antonius in den Wein ein. Die dritte Säule war eine Umstellung der Ernährung. Man verabreichte den Kranken eine gesunde, stärkende Kost aus Weizenbrot (ohne Mutterkorn!) und Schweinefleisch. War die Vergiftung noch nicht weit fortgeschritten war, gelang es häufig, die Krankheit zu stoppen. Jedenfalls bis zur nächsten Hungersnot. In schweren Fällen amputierten Wundärzte, die beim Antoniterorden unter Vertrag standen, die abgestorbenen Gliedmaßen und versorgten die Wunden. Der Einsatz von Narkotika war dabei meist nicht nötig, die Glieder fielen fast von selbst ab. Nach dem Verständnis der Antoniter konnten die therapeutischen Maßnahmen nur dann Erfolg haben, wenn der Heilige seine Hilfe gewährte, im Zusammenspiel von irdischer und himmlischer Heilkunst.

Der heilige Antonius als Abt mit seinem Wahrzeichen, dem Antoniusschwein
Antonius mit Schwein. Um 1482/85 von Bartholomäus Zeitblom. Teil eines Altarflügels. Staatsgalerie im Hohen Schloss Füssen

Ausgehend von Saint-Antoine entstanden bis zum Ende des 15. Jahrhunderts mehr als 370 Häuser des Antoniterordens mit angeschlossenem Spital. Die Größe der Spitäler war allerdings bescheiden, auch in den wenigen großen Häusern konnten höchstens 20 Kranke behandelt werden. Und wie heute war die Personaldecke dünn. Wie wurde das Ganze finanziert? In erster Linie durch jährliche Almosensammlungen in allen Pfarreien, die sogenannte Quest, die von den Antoniusboten durchgeführt wurde. Und durch das Antoniusschwein. Man spendete dem Orden ein Ferkel, das eine Glocke um den Hals bekam, frei herumlief und sich von den Abfällen ernährte. Am 17. Januar, dem Tag des Heiligen, wurde es zugunsten des Ordens geschlachtet. Der heilige Antonius mit einem Schwein zu seinen Füßen wurde zu einem Markenzeichen der Antoniter.

Dem Pilz auf der Spur

Dass das merkwürdig geformte Korn, das das Mehl dunkel färbte, krank machen könnte, wurde immer mal wieder vermutet. Doch die Beweisführung war schwierig, da die Menschen bei geringerem Befall oder längerer Lagerung keine Symptome zeigten. Die Ärzte setzten eher auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte. Erst im 17. Jahrhundert entdeckten zwei Franzosen die Ursache des Antoniusfeuers. 1630 verfütterte der Arzt Tuillier mit dem Mutterkornpilz verunreinigten Roggen an Hühner und konnte so nachweisen, dass die Krankheit durch verseuchte Nahrung hervorgerufen wurde. Denis Dodart, Botaniker und einer der Ärzte Ludwigs XIV., verhalf Tuilliers Erkenntnissen zu wissenschaftlicher Anerkennung. Doch es sollte noch ein Jahrhundert vergehen bis Taten folgten. Ein erstes Behelfsmittel waren feine Siebe, mit denen die schwarzen Mutterkornbestandteile vom restlichen Getreide getrennt werden konnten. Den Durchbruch brachte die Kartoffel, die den Roggen als Grundnahrungsmittel für die breitere Bevölkerung ablöste. Die geänderten Essgewohnheiten und die Reformation setzten auch dem Antoniterorden zu. 1776 ging der Orden auf Weisung Papst Pius IV. im Malteserorden auf. In Krisenzeiten flackerte die Krankheit bis in das 20. Jahrhundert immer mal wieder auf, trotz des Anbaus weniger anfälliger Getreidesorten. Verschwunden ist das Mutterkorn allerdings nicht. Heute wird es mittels lasergesteuerter Farbsortierer aus dem Getreide entfernt.

Vom Gift zum Medikament

Mutterkorn wurde bereits im 17. Jahrhundert in der Geburtshilfe eingesetzt um Wehen auszulösen und nach der Geburt das Blut zu stillen. Man griff auch zum Mutterkorn um ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Die korrekte Dosierung war allerdings sehr schwierig. Erst im 20. Jahrhundert gelang es, einzelne Wirkstoffe des Mutterkornpilzes zu isolieren. Verantwortlich für die giftige Wirkung ist eine Mischung verschiedener Alkaloide. Bisher sind weit mehr als 50 Alkaloide des Mutterkorns bekannt. Einige werden noch heute gegen Migräne (selten) und Parkinson eingesetzt. Der Schweizer Chemiker Albert Hofmann wollte 1938 mit Hilfe des Mutterkornpilzes ein Kreislaufmittel entwickeln und stellte dabei zum ersten Mal LSD her. Den Ausgangsstoff für die Droge liefert das Mutterkornalkaloid Lysergsäure. Inzwischen werden Mutterkornalkaloide auch biotechnologisch hergestellt. Doch zu Zeiten Albert Hofmanns war man noch auf natürlich vorkommendes Mutterkorn angewiesen. Da die Nachfrage nicht mehr gedeckt werden konnte, bauten Schweizer Bauern im Auftrag der pharmazeutischen Industrie Mutterkorn bis in die 70er Jahre auf ihren Feldern an. Der Verursacher des heiligen Feuers wurde für die Bauern zu einer lohnenden Einnahmequelle.