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Leben auf der Säule (I)

Als Simeon am 2. September 459 starb, bemerkte das drei Tage lang niemand. Was nicht weiter verwunderlich war, denn Simeon lebte seit mehr als dreißig Jahren auf einer 18 Meter hohen Säule. Dieser auch für damalige Verhältnisse reichlich exaltierte Lebensstil zog eine Menge Neugierige und Ratsuchende an. Nachdem Simeon es drei Tage hintereinander unterlassen hatte, den Kopf zu heben, um die unter seiner Säule Versammelten zu segnen, wurde sein Schüler Antonius doch etwas unruhig, griff zu einer Leiter, stieg nach oben und stellte den Tod des verehrten Lehrers fest.    

Kloster Qal’at Sim’an in der Nähe von Aleppo, errichtet um die Säule Simeons.

An Simeons Wirkungsort wurde einige Jahre nach seinem Tod ein Kloster gebaut (später Qal’at Sim’an genannt), eine gewaltige Wallfahrtsanlage. Um Simeons Säule errichtete man ein Oktogon von 28 Metern Durchmesser. Das Foto entstand vor 30 Jahren. Im großen mittleren Torbogen kann man links den spärlichen Rest von Simeons Säule erkennen.

Zwischen Himmel und Erde

Wie kommt man dazu, sein Leben auf einer Säule zu verbringen? Simeon wurde um 390 in eine syrische Bauernfamilie geboren. Früh zeigte er religiösen Eifer und selbstzerstörerische Neigungen. Mit 16 Jahren trat er in ein Kloster ein und erschreckte seine Mitbrüder durch seine extreme Askese. Aßen die Mönche drei Tage lang nichts, so fastete Simeon eine Woche. Er schlief nicht, schlang sich ein Seil aus Palmblättern so eng um seinen Körper, dass das wunde Fleisch eiterte und so stank, dass es niemand in seiner Nähe aushielt. Das Leben in einem syrischen Kloster, das man sich eher als lockere Gemeinschaft von Eremiten vorstellen muss, war kein Zuckerschlecken. Diese frühchristlichen Gemeinschaften waren erfinderisch im Ausdenken körperlicher Qualen, überhaupt schien der ganze östliche Mittelmeerraum von einer religiösen Hysterie erfasst, doch was Simeon sich antat, war seinen Glaubensbrüdern zu viel. Dieser Mann war offenbar bereit, in der Zerstörung seines Körpers bis zum Äußersten zu gehen. Man fürchtete, er könne Schwächere zu ähnlichem Tun verführen. Simeon musste die Gemeinschaft verlassen. Er versuchte sich als Eremit, lebte in einem Brunnenschacht, ließ sich einmauern und an einen Felsen ketten. Schließlich fand er die ihm adäquate Lebensform: Fortan verbrachte er seine Tage und Nächte stehend auf einer Säule. Das Stehen auf Säulen hatte in Syrien Tradition. In vorchristlicher Zeit sollen die Verehrer des Gottes Dionysos zweimal jährlich für sieben Tage auf Säulen in dessen Tempel ausgeharrt haben. Simeon trat also in heidnische Fußstapfen. Das war nicht ungewöhnlich. Die Kultstätten der alten Götter wurden christlich überschrieben. Kirchen und Klöster errichtete man gerne dort, wo früher heidnische Gottheiten verehrt worden waren.

Den Menschen entrückt...

Simeon hielt es länger als ein paar Tage auf seiner Säule aus. Angeblich verließ er sie bis zu seinem Tod nicht mehr. Nach übereinstimmenden Berichten lebte er auf einer zwei mal zwei Meter großen Plattform, ohne Schutz der Hitze und Kälte der Wüste ausgesetzt. Zunächst war Simeons Säule nur etwa zwei Meter hoch. Doch immer mehr Menschen wollten diesem außergewöhnlichen Mann nahe sein, ihn anfassen, einen Faden aus seiner Kleidung ziehen. So ein Fitzelchen Stoff von der Kleidung eines heiligen Mannes, denn es musste sich ohne Zweifel um einen Heiligen handeln, konnte, so glaubte man, Krankheiten heilen und andere nützliche Wunder bewirken. Um dem zu entgehen, ließ Simeon seine Säule immer wieder erhöhen, bis er schließlich ein Leben auf 18 Metern über der Erde führte.    

...und doch Teil der Welt

Was macht man den ganzen Tag auf einer Säule? In erster Linie Beten und rhythmisch Auf-die-Knie-Fallen. Ein Bewunderer zählte 1244 solcher Proskynesen und gab dann auf. Von 3 Uhr nachmittags bis Sonnenuntergang unterrichtete Simeon Schüler, schlichtete Streit, heilte Kranke, predigte. Am Fuß der Säule wartete eine Menschenmenge darauf, dass der klapperdürre Mann (er nahm nur einmal in der Woche Nahrung zu sich) das Wort an sie richtete. Die Zeit des Wartens wurde, so kann man vermuten, dazu genutzt, Heiraten anzubahnen, Karrieren zu planen und Geschäfte abzuschließen. Frauen durften sich der Säule übrigens nicht nähern, nicht einmal Simeons Mutter, die darum bat, ihren Sohn vor ihrem Tod noch einmal sehen zu dürfen. Frauen kommunizierten über männliche Boten. Aus medizinischer Sicht kann natürlich niemand 30 Jahre auf einer Säule stehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Jede Zeit hat ihre eigenen Heiligen. Heute würde man Simeon von seiner Plattform herunterholen und in die Psychiatrie einweisen. Diagnose: Süchtig nach dem Martyrium. 

St. Symeon Stylites von William Burges 1861. Illustration eines Gedichtes von Alfred Tennyson. © Victoria and Albert Museum

"St. Simeon Stylites" von William Burges aus dem Jahr 1861. Simeon lebt nicht in der Wüste, sondern mitten in einer spätmittelalterlich anmutenden Stadt. Die Zeichnung illustriert ein Gedicht von Alfred Tennyson (1809 - 1892). Tennyson schrieb es als Reaktion auf den Tod eines engen Freundes. Simeon hofft auf das Paradies: Die Märtyrer mögen grausame Tode erlitten haben, aber sie starben nur einmal, er jedoch führt seit 30 Jahren ein Leben im Tod.

"Who may be made a saint, if I fail here?

Show me the man hath suffered more than I."

© Victoria and Albert Museum, London

Ein begehrter Leichnam

Nach Simeons Tod eilten sieben Bischöfe und angeblich 600 Soldaten an die nun verwaiste Säule. Es sollte verhindert werden, dass die Bewohner der umliegenden Dörfer sich der Leiche des Asketen bemächtigten. Der Leichnam zeigte - ganz vorschriftmäßig - alle Anzeichen eines Heiligen: keine Verwesung und ein süßer Geruch. Der Bischof von Antiochia wollte sich ein Barthaar des Toten sichern, doch seine Hand verdorrte bei dem Versuch es auszureißen. Die übrigen Bischöfe mussten dem Heiligen versprechen, seinen Leichnam unversehrt zu lassen. Noch ließ man die Leichen der Heiligen intakt, brach höchstens Zähne heraus, schnitt Nägel oder Haare um Reliquien zu gewinnen, Körperteile, die nach damaliger Auffassung nachwuchsen. Spätere Jahrhundert waren nicht mehr so pingelig und so wurde auch Simeons Leichnam später zwischen Antiochia und Konstantinopel aufgeteilt.

Simeon fand einige Nachfolger, darunter auch einen in der Nähe von Trier. Um diesen eher armseligen Versuch soll es im nächsten Blog gehen (Auf der Säule II). Zum Massenphänomen wurde das Säulenstehen - wen wundert es - jedoch nicht.   

Literatur

Über Simeons Leben gibt es drei Berichte, einer davon ist zeitgenössisch. In englischer Übersetzung veröffentlicht: The Lives of Simeon Stylites. Translated, with an Introduction, by Robert Doran, Michigan 1992