„Magisch, einfach magisch“, flüstert die grauhaarige Dame in Trekkingsandalen. Der Rest der Gruppe nickt ergriffen. Was die Esoterik-Reisegruppe als spirituellen Ort begreift, nennen Archäologen nüchtern Kreisgrabenanlage. Vor 7000 Jahren rammten Menschen in Goseck an der Saale etwa 2000 drei Meter hohe Baumstämme kreisförmig in den Boden. Lange vor dem Bau der Pyramiden, lange vor Stonehenge. Warum sie das taten? Um den Lauf der Sonne zu beobachten. Goseck gilt manchen Archäologen als ältestes Sonnenobservatorium der Welt. Aber vermutlich steckt noch ein bisschen mehr dahinter.
Kreisgrabenanlagen wurden in der Jungsteinzeit in ganz Mitteleuropa errichtet. Bis jetzt hat man dank der Luftbildarchäologie ungefähr 200 davon gefunden. Systematisch erforscht werden diese Anlagen erst seit 30 Jahren. Das Gosecker Ringheiligtum wurde 1991 entdeckt. Aus der Luft konnte man einen annähernd kreisförmigen Graben sehen, der im Norden, Südosten und Südwesten durch je ein Tor unterbrochen wurde. Zwischen 2002 und 2004 wurde die gesamte Anlage ausgegraben und 2005 nach dem heutigen Wissensstand rekonstruiert. Zwei Palisadenringe mit drei Durchgängen umschließen eine circa 70 Quadratmeter große, kreisförmige, unbebaute Fläche, umgeben von einem Graben und einem Wall. An den Toren fanden sich Gruben mit Arbeitsgeräten, Geschirr und Knochen von Haustieren und Menschen. Errichtet wurde die Anlage um 4800 v.Chr. Für eine Anlage, die ihre Erbauer viel Mühe gekostet haben muss, war sie nur vergleichsweise kurz „in Betrieb“. 300 Jahre später machten die Menschen sie wohl absichtlich unbrauchbar. Die Gründe werden wir nicht mehr erfahren. Aber in ganz Mitteleuropa wurden Kreisgrabenanlagen ab 4600 v.Chr. nicht mehr in ihrer ursprünglichen Funktion genutzt.
Die Tore und die Unterbrechungen in den Palisaden dienten der Bestimmung wichtiger Orientierungstage für eine bäuerliche Gesellschaft. Das Wissen um den Zeitpunkt von Winter- und Sommersonnenwende war wichtig für die Aussaat, ein Fruchtbarkeitsfest Ende April/Anfang Mai sollte für eine gute Ernte sorgen. Das breite Nordtor war vermutlich der eigentliche Zugang zur Anlage.
In der Forschung werden auch immer mal wieder die Nutzung als Viehkral, Schutzvorrichtung bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder Markt- und Versammlungsplatz diskutiert. Die beiden ersten Vorschläge kann man vermutlich ausschließen, zu viel Aufwand für einen Viehkral, zu wenig Schutz vor Angreifern. Dagegen steht wohl außer Frage, dass die Bestimmung (und damit auch Beherrschung) des Jahreskreislaufs eine sakrale Komponente hatte. Es ist schon für das frühe Mittelalter schwer, Funktionsweisen der Gesellschaft zu erkennen, noch schwerer macht es einem die Urgeschichte. Materialisierte, sichtbare Grenzen sind mit der Sesshaftwerdung des Menschen verbunden. Die domestizierte Welt war schutzbedürftig und die Wildnis eine Bedrohung der Ordnung. Noch Jahrtausende später wird die Jagd auf wilde Tiere als Wiederherstellung der Ordnung und damit Aufgabe des Herrschers gesehen. Die Einzäunung mit Palisaden markierte eine deutliche Grenze zwischen Sakralem und Profanem. Es ist sicher kein Zufall, dass es in Goseck an den Toren, den Übergängen zwischen beiden Welten, viele Funde, vermutlich Reste von Opferungen, gab. Nehmen wir also an, Goseck war ein „multifunktionales Monument“, wie die Archäologen sagen. Ein Ort für Feste und Rituale, vielleicht ein Ort für den Übergang in die Erwachsenenwelt, ein Tor ins Jenseits und nicht zuletzt auch ein Ort, wo Eingeweihte die wichtigsten Daten für die Menschen in den Siedlungen um das jungsteinzeitliche Goseck festlegten.
Quelle: Goseck- neue Forschungen zum Ringheiligtum und zum Benediktinerkloster. Archäologie in Sachsen-Anhalt. Sonderdruck Bd. 5/2011 (Neue Folge)
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