Pilgernde Frauen in der Spätantike
Um das Jahr 395 hatte Arsenius genug vom üppigen Leben am Hof des Kaisers Theodosius und zog sich in die Einsamkeit der ägyptischen Wüste zurück. Dachte er jedenfalls. Doch die heiligen Männer der Wüste waren ein beliebtes Reiseziel betuchter römischer Damen. Der sich von so viel Weiblichkeit gestört fühlende Arsenius fürchtete, der Ozean werde sich „in eine Landstraße für Tausende von Weibern verwandeln“, alle unterwegs, um ihn zu sehen. Und an allem war Helena schuld.
Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, unternahm um 326, bereits hochbetagt, eine Reise nach Palästina. Es war vielleicht eher eine Inspektions- als eine Pilgerreise. Helena besichtigte, begleitet von einem großen Gefolge aus frommen Frauen, Höflingen und Soldaten, Kirchenbauten in Bethlehem und Jerusalem, die ihr Sohn veranlasst und finanziert hatte. Während dieser Reise soll Helena das Kreuz Christi und andere Reliquien gefunden haben. Die Legende von der Kreuzauffindung kam allerdings erst einige Jahrzehnte nach Helenas Tod auf, gefördert von Ambrosius, dem Bischof von Mailand.
Über sturmreiche Meere und riesige Flüsse
Viele Menschen wollten die heiligen Stätten mit eigenen Augen sehen, besonders Jerusalem, das nach den Vorstellungen des christlichen Mittelalters das Zentrum der Welt bildete. Unter den Reisenden des 4. Jahrhunderts waren erstaunlich viele Frauen, die nicht nur Interesse an den Orten der Heilsgeschichte zeigten, sondern auch am teilweise recht exaltierten religiösen Leben Palästinas und Ägyptens. Für Frauen war das Pilgern eine Möglichkeit, aus einem Leben, das ihrem Entfaltungsdrang enge Grenzen setzte, auszubrechen. Nicht alle Frauen waren erpicht darauf, nach einer langen Reise wieder in die heimatlichen Gefilde zurückzukehren. Sie lebten weiter im Heiligen Land als Einsiedlerinnen oder gründeten religiöse Gemeinschaften. Manche Frauen flüchteten vor der öffentlichen Meinung nach Jerusalem wie Paula, eine enge Freundin und Mitarbeiterin des Kirchenvaters Hieronymus. Als Paulas älteste Tochter durch zu strenges Fasten starb, wurde in Rom die Kritik an Hieronymus „Damenzirkel“ so groß, dass beide Rom Richtung Osten verließen. Solche Fluchten setzten ein großes Vermögen und soziale Ungebundenheit voraus. Für Frauen war das eigentlich nur im Witwenstand zu erreichen. Manchmal ging es auch anders. Melania die Jüngere pilgerte gleich mit Ehemann, Mutter und Großmutter (der älteren Melania, auch einer eifrigen Pilgerin) zu allen Klöstern und Asketen Nordafrikas und Ägyptens.
Das weiblich-gebrechliche Geschlecht
Die Ansichten über das Pilgern gingen auseinander. Man solle mit der Seele, nicht mit den Füßen pilgern, war eine weit verbreitete Meinung. Reisende Frauen galten generell als suspekt. Bischof Gregor von Nyssa machte sich Sorgen, dass Frauen, die aufgrund ihrer körperlichen Schwäche auf Schutz und Hilfe angewiesen seien, kaum ihre Keuschheit bewahren konnten. Da genügte schon eine männliche Stütze in unebenem Gelände oder die hilfreiche Hand beim Besteigen eines Reittiers. Als akzeptable Begleitung galten allenfalls ältliche Kleriker oder Frauen. 300 Jahre später, als Rom ein beliebtes Pilgerziel geworden war, sah Bonifatius das noch genauso: Man solle Frauen das Reisen nach Rom verbieten, entweder kämen sie um oder sie verlören ihre Jungfräulichkeit.
Wer war Egeria?
Von diesen Bedenken ließ Egeria sich nicht abschrecken. 381 brach sie zu einer mehrjährigen Reise durch das Heilige Land auf und legte mehr als 5000 Kilometer zurück. Egeria fand die Zeit einen Reisebericht zu schreiben, Briefe an ihre daheimgebliebenen Mit-Schwestern. Der Text wurde 1884 in der Klosterbibliothek von Arezzo entdeckt, doch er war nicht vollständig. Erst als man ihn mit einem um 680 geschriebenen Brief des Eremiten Valerius, der Lobpreisung einer weitgereisten Nonne namens Egeria oder Aetheria, die sich „freiwillig und ohne Zwang in der Fremde stählte“, in Verbindung brachte, hatte man den Namen einer - möglichen - Autorin. Egeria stammte entweder aus Nordspanien oder Südfrankreich, sie war keine Nonne (das Klosterwesen hatte sich nördlich des Mittelmeeres noch nicht ausgebreitet), lebte aber vielleicht in einer lockeren Gemeinschaft frommer Frauen, an die sie ihre Briefe richtete. Egeria war sicher vermögend, - solche Pilgerreisen kosteten eine Menge Geld -, mittelalt, körperlich fit und ungebunden (Witwe?). Als sie nach ihrer dreijährigen Rundreise wieder in Konstantinopel ankam, hatte sie es nicht eilig, nach Hause zu kommen, sondern machte sofort neue Reisepläne. Sie selbst bezeichnete sich als „schrecklich neugierig“. Ihr Latein gilt als solide, ohne rhetorische Finessen. Im Gegensatz zu den vermögenden Damen der römischen Aristokratie sind von ihr keine frommen Stiftungen, Klostergründungen oder Kirchenbauten bekannt. Und Egeria gilt als die erste uns namentlich bekannte Bergsteigerin. Sie bestieg den Sinai „ganz direkt wie eine Wand“.
Im Paradies der Freuden - Biblisches Sightseeing
Egeria war durchaus neugierig und wissbegierig, allerdings in Grenzen. Ihr Baedecker war die Bibel. Egerias Interesse galt einzig und allein christlich konnotierten Orten. Andere Pilgerliteratur war da offener. Das einige Jahrzehnte vor Egerias Bericht entstandene Itinerarium Burdigalense (Startpunkt der Reise war Bordeaux=Burdigala), der erste bekannte Pilgerführer, eigentlich nur eine Aufstellung von Raststationen, Entfernungsangaben und touristischen Hinweisen, erwähnt auch Profanes, wie das Tote Meer, dessen bitteres Wasser einen Menschen umdreht, wenn er versucht, darin zu schwimmen. Egeria erwies sich solchen Verlockungen gegenüber standfest. Das Reisen mit ihr scheint auch seine anstrengenden Momente gehabt zu haben. „Dies war nämlich immer unser Brauch, wo immer wir zu ersehnten Orten kamen, dass es dort zuerst ein Gebet gab“, dann wurde die passende Stelle aus der Bibel vorgelesen, ein Psalm gesprochen und wieder gebetet. Manchmal gab es auch einen kleinen Gottesdienst. Es konnte sich also ziehen. Mönche zeigten Egeria den Brennenden Dornbusch, dessen Echtheit sie nicht in Frage stellte. Der Weg der Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten durch das Rote Meer schien ihr zwar etwas wirr, doch zweifelte sie nicht an der Authentizität der ihr genannten Rastplätze. Die Israeliten, schrieb sie an ihre Mit-Schwestern, hätten ihren Zug so gemacht, „dass sie, wie weit sie nach rechts abbogen, ebenso weit nach links zurückkehrten, wieweit sie aber nach vorne zogen, ebenso weit wieder zurückkehrten“. Das möge man ihr in der fernen Heimat bitte glauben. Alles in allem fällt Egerias Briefbericht recht nüchtern aus. Sie hatte offenbar keine Visionen wie die zeitgleich reisende Paula, die sich weinend zu Boden warf, den Säugling Jesus leibhaftig weinend in seiner Krippe gesehen haben wollte oder den rasenden Herodes. Auch scheint Egeria keine asketischen Neigungen gehabt zu haben. Sie erwähnt weder Fasten noch Schlafentzug. Stattdessen zeigte sie großes Interesse an den religiösen Festen und Kulthandlungen in Jerusalem, die sie im zweiten Teil ihres Berichtes ausführlich schildert.
Pilgertourismus
Ende des 4. Jahrhunderts, zur Zeit von Egerias Reise, war man im Heiligen Land bereits gut auf Reisende mit religiösen Interessen vorbereitet. Man bot den Pilgern, was sie suchten: reale Orte, die die in der Bibel beschriebenen Ereignisse physisch erfahrbar machten. Auf dem Sinai konnte man bei den Mönchen übernachten, die sich dann am nächsten Tag als Berg- und Fremdenführer anboten. Sie zeigten Egeria die Höhle, die Moses aufgesucht hatte, als er zum zweiten Mal den Sinai bestieg und „dann geruhten sie, uns alle anderen Orte zu zeigen, die wir ersehnten oder die sie besser kannten.“ Offenbar fühlten sich diese Mönche auch durch Frauen nicht in ihrer Kontemplation gestört. Der heilige Arsenius scheint in dieser Hinsicht besonders empfindlich gewesen zu sein.
Literatur
Aetheria/Egeria. Reise ins Heilige Land. Lateinisch-deutsch. Herausgeben und übersetzt von Kai Brodersen, 2016 (de Gruyter)
Die Zitate aus Egerias Reisebericht wurden diesem Buch entnommen.