Teil 2: Der Berater
Gerbert von Aurillac war 40 und fühlte sich zu Höherem berufen. Das Kind einfacher Eltern hatte bereits einen Kaiser unterrichtet, war berühmt für seine scharfzüngigen Reden, seine mathematischen und astronomischen Kenntnisse. Doch jetzt war er schon seit einigen Jahren Leiter der Domschule von Reims und im Nebenjob Sekretär und Diplomat in Diensten des Reimser Erzbischofs. Zweifellos hoch angesehene Positionen, aber Gerbert hatte nicht vor, sein Leben als Lehrer zu beschließen.
Ein verhängnisvoller Karrieresprung
Gerbert wollte selbst Erzbischof von Reims werden. Reims war nicht irgendeine Diözese, hier wurden Könige gekrönt. 989 starb der alte Erzbischof Adalbero und Gerbert konnte sich gute Chancen auf seine Nachfolge ausrechnen. Doch die Neubesetzung wurde zu einer Machtfrage zwischen den um den westfränkischen Königsthron konkurrierenden Familien der Karolinger und Kapetinger. Mit Hilfe des neuen kapetingischen Königs Hugo erhielt der illegitime Karolinger Arnulf den Posten. Doch Arnulf verriet Hugo, wurde anschließend selbst verraten, kam in Haft und wurde von einer Synode westfränkischer Bischöfe abgesetzt. Das war nicht so ganz comme il faut, auch wenn Gerbert, der jetzt endlich (wir schreiben das Jahr 991) Erzbischof von Reims wurde, wortgewandt seine eigene Sache vertrat. Reims lag Gerbert nicht gerade zu Füßen. Der Papst fühlte sich übergangen und war sowieso dagegen.
In dieser Zeit schrieb Gerbert viele Briefe. Den Kontakt zum ottonischen Hof hatte er ohnehin nie abbrechen lassen. Er versicherte sich der Freundschaft der politisch Einflussreichen. Gerbert lavierte. Um ihn wurde es zunehmend einsam. Er klagte, er müsse allein beten, allein speisen, lese er die Messe, so blieben viele fern. Übrigens sollte man sich wegen des regen Briefverkehrs nicht wundern. Die gelehrte Welt des Mittelalters stand in ständigem Austausch, auch ohne Post, Whatsapp und E-mail. War umständlicher, dauerte länger, funktionierte aber irgendwie.
Fünf Jahre dauerte Gerberts aussichtsloser Kampf, der ihn auch gesundheitlich ziemlich mitnahm. Im Mai 996 fand er sich zu einer Synode in Rom ein, die über sein Schicksal entscheiden sollte. Gerbert glänzte rhetorisch, das nutzte ihm aber nicht viel. Doch auf den 17jährigen Otto III., soeben in Rom zum Kaiser gekrönt, machte Gerbert einen tiefen Eindruck. Auf die Kapetinger konnte Gerbert nicht mehr zählen. Wegen einer fragwürdigen Ehe des Thronfolgers mit seiner Cousine waren die Kapetinger auf das Wohlwollen des Papstes angewiesen. Also entließ man den abgesetzten Erzbischof Arnulf aus der Haft.
Lehrer, Vertrauter, Berater
Widmungsbild des Liuthar Evangeliars, das vermutlich um das Jahr 1000 im Auftrag Ottos III. im Kloster Reichenau entstand. Otto III. sitzt, bekleidet nach der Art römischer Kaiser, auf einem Thron, der die Erde symbolisiert. Er ist umgeben von einer Mandorla, einer Art Ganzkörperheiligenschein, die sonst nur Christus vorbehalten ist. Die Hand Gottes krönt den Kaiser. Nie war ein Kaiser dem Himmel so nah, durch Salbung und Krönung erhoben zu einem irdischen Christus, dem die Mächtigen huldigen. So legitimiert man einen Führungsanspruch.
Gerbert suchte sich bereits ein neues Betätigungsfeld. An den Kanzler des Kaisers schrieb er, falls er sein Amt als Erzbischof nicht mehr ausüben könne, würde sein höchster Wunsch erfüllt und er könnte als ständiger Begleiter des Kaisers das Reich lenken (natürlich gemeinsam mit dem Kanzler). Darunter machte er es nicht. Und dann erhielt Gerbert noch einen Brief des 17jährigen Kaisers, in dem er den allerkundigsten Magister bat, sein Lehrer und politischer Berater zu werden. Gerbert solle Ottos sächsische Grobheit nicht dulden, dafür seine griechische Feinheit fördern - eine Anspielung auf Ottos sächsisch-griechische Eltern. Deutschnational Gesinnten stieß diese Passage schon immer sauer auf. Gerbert, der schon um sein Leben fürchtete, verließ Reims und wurde der Vertraute des Kaisers.
Und schließlich Papst
Nach der Konstantinischen Schenkung (eine Fälschung aus dem 8. Jahrhundert) soll Papst Silvester im 4. Jahrhundert Kaiser Konstantin vom Aussatz geheilt haben. Aus Dankbarkeit ließ sich Konstantin taufen, verlieh dem Papst den Vorrang über alle Kirchen, übertrug ihm die kaiserlichen Insignien, den Lateranpalast, die ganze Stadt Rom, alle Provinzen Italiens und so weiter. Otto III. hielt die Urkunde vermutlich für eine Fälschung, doch ihre Sprengkraft sollte sie wenig später im Investiturstreit zeigen.
Fresko Silvesterkapelle der Basilika Santi Quattro Coronati in Rom, 1247. Konstantin, vom Aussatz geheilt, übergibt Silvester gemeinsam mit den Römern die Stadt Rom.
Die Zusammenarbeit sollte sich für beide Seiten als fruchtbar erweisen. Gerbert war intelligent und geschmeidig genug, um sich am Hof zu behaupten. 998 wurde Gerbert auf Ottos Wunsch hin Erzbischof von Ravenna. Im April 999 setzte der Kaiser die Wahl Gerberts zum Papst durch. Er nahm den Namen Silvester II. an. Da es damals noch nicht üblich war, sich als Papst einen neuen Namen zu geben, kann man dahinter durchaus Programmatisches vermuten: Ein Verweis auf die enge Zusammenarbeit von Kirche und Herrscher, wie zu Zeiten Konstantins des Großen und Papst Silvester I. Mit Sicherheit kann man sagen, dass Gerbert und Otto das Papsttum unabhängig von den Intrigen stadtrömischer Adelscliquen machen wollten. Ob beide ein neues Römisches Reich unter christlichem Vorzeichen schaffen wollten, das auch den gerade christianisierten Osten Europas umfassen sollte, sei dahingestellt. Der frühe Tod Ottos III. Ende Januar 1002 machte alle Pläne zunichte. Gerbert konnte trotz der unruhigen Zeiten bereits einen Monat später wieder Rom betreten. Er überlebte den Kaiser nur um 16 Monate, am 12. Mai 1003 starb er im Lateranspalast. Übrigens brachte er als Papst die leidige Reimser Angelegenheit zu einem späten Abschluss. Er bestätigte seinen alten Gegner Arnulf als Erzbischof von Reims, nicht ohne nochmals die Rechtmäßigkeit der Absetzung zu betonen. Auch kluge Köpfe behalten gerne recht.
Gerbert konnte sich nicht auf eine mächtige Familie berufen, er hatte sich selbst alle Türen geöffnet. Sucht man im renommierten Lexikon des Mittelalters nach Silvester II., so wird man auf den Eintrag Gerbert von Aurillac verwiesen, eine Referenz an Gerberts Ruf als Gelehrter, Briefeschreiber und Rhetoriker. Ihm selbst hätte das vermutlich gefallen, schließlich unterschrieb er auch als Papst mit Gerbertus qui est Silvester, Gerbert, der Silvester ist.
Wer an einem anderen Aufsteiger interessiert ist, der im Gegensatz zu Gerbert wegen seiner niedrigen Herkunft gemobbt wurde, sollte die Beiträge über Johannes von Gorze lesen: Immer zu Diensten.