Fast alle Kulturen haben in ihrer Geschichte Techniken zur Einbalsamierung entwickelt. Unausweichliche biologische Zerfallsprozesse kollidierten mit dem korrekten Ablauf der Übergangsriten, der Trauerfeierlichkeiten. Im frühen Mittelalter war vermutlich die rasche Bestattung eines unversehrten Leichnams üblich und erwünscht. Was aber, wenn man fern der Heimat starb? Die meisten Menschen waren ortsgebunden, sie starben dort, wo sie geboren wurden. Und wenn nicht, stellte sich mangels Möglichkeiten die Frage gar nicht. Die Oberschicht allerdings war ziemlich viel unterwegs, da musste man im Todesfall schon abwägen: unkomplizierte Bestattung in fremder Erde oder aufwendiger Rücktransport? Beides wurde praktiziert.
Tyrannen stinken
Im Oktober 877 war Karl der Kahle auf dem Rückweg von einem Italienfeldzug in den französischen Alpen gestorben. Er sollte in der fast 700 km entfernten karolingischen Grablege St. Denis bestattet werden. Ohne ausgeklügelte Kühlungstechnik war das kaum machbar. Also musste man andere Maßnahmen ergreifen. Es handelt sich vermutlich um den ersten Versuch einer Einbalsamierung im fränkischen Reich. Man entnahm dem Toten die inneren Organe und wusch die Leiche mit Wein und aromatischen Essenzen. Wegen starker Geruchsbildung legte man den toten Kaiser in eine mit Pech bestrichene Tonne, die zusätzlich mit Leder überzogen wurde. Doch es half alles nichts. 200 km hielten die Träger den strengen Geruch aus, dann gaben sie auf und bestatteten Karl den Kahlen in der Abtei Nantua. Später bettete man seine Überreste um und er fand doch noch in St. Denis seine letzte Ruhestätte. (Jedenfalls bis zur Französischen Revolution, dann endete er in einem Massengrab.) Auch solche Zweitbestattungen waren ein übliches Verfahren, wenn ein längerer Transport nicht möglich war. Der Bericht über die misslungene Überführung ist allerings mit Vorsicht zu genießen, denn er wurde von einem erklärten Gegner Karls des Kahlen verfasst. Bereits in der Bibel kennzeichnet Verwesungsgeruch den Tyrannen. Der heilige Leichnam verströmt dagegen süßen Duft. Die ersten Einbalsamierungsversuche im 9. Jahrhundert zeigen eine veränderte Einstellung zum Toten. Die körperliche Unversehrtheit des Leichnams war nicht mehr so wichtig. Man versuchte jetzt, das äußere Erscheinungsbild des Toten zu erhalten. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert. Gleichzeitig begann man, Tote, die im Ruf der Heiligkeit standen, zu fragmentieren, also zu teilen, um den Bedarf an Reliquien zu decken.
Tote brauchen manchmal länger
Der Kaiser war tot. Dahingerafft vom Fieber. Ende Januar 1002 starb Otto III. mit 21 Jahren in der Burg Paterno in der Nähe Roms. Die Lage in Italien war unsicher. Die Getreuen des Kaisers wollten den Toten nicht im brodelnden Oberitalien lassen, er musste über die Alpen geschafft werden – irgendwie. Erzbischof Heribert von Köln, der Anführer des Unternehmens „Leichenzug“, versuchte, die kaiserlichen Truppen aus den umliegenden Kastellen zusammenzuziehen. Schon das gelang nicht ohne Kämpfe. Als die Truppen endlich alle eingetroffen waren, schlug man sich mit dem einbalsamierten Körper des Kaisers zu den Alpen durch. Immer wieder wurde der Tross von Aufständischen angegriffen; Gold und Silber flossen in die Taschen der Angreifer. Nur schnell über die Alpen, weg aus dem unruhigen Italien. Zum Glück war es Winter und die Kälte hielt die Leiche frisch. Mühsam war der Weg über den tief verschneiten Brenner bis nach Polling, wo der Trauerzug Anfang März 1002 von Herzog Heinrich von Bayern, einem Vetter dritten Grades des Verstorbenen, erwartet wurde.
Instrumentalisierung einer Leiche
Natürlich gehörte es sich, dass der Herzog die Leiche seines Verwandten in Empfang nahm, aber das war nicht der einzige Grund, warum der Bayer in Polling wartete. Es brachte ihn auch in eine günstige Ausgangsposition für die Krone. Otto III. war kinderlos gestorben und hatte keine Verfügungen über seine Nachfolge hinterlassen. Die Leiche war bis auf weiteres in der Hand Heinrichs und so ließ er die Eingeweide des verstorbenen Kaisers (es handelte sich um zwei Behälter) im Kloster St. Afra bei Augsburg beisetzen. Das war vermutlich nicht so geplant gewesen. Heinrich geleitete den Trauerzug den Lech abwärts durch sein Herzogtum. Demonstrativ trug er den Sarg auf seinen eigenen Schultern mit, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. An der Grenze des Herzogtums musste man Heinrich schließlich überreden, den Weg freizugeben. Während des Zuges versuchte er unentwegt, die Großen auf seine Seite zu ziehen, was zu erregten Diskussionen führte und wahrscheinlich allen auf die Nerven ging. Der Leichnam Ottos wurde schließlich nach Köln gebracht, Erzbischof Heribert ließ ihn in allen vier großen Kirchen der Stadt je einen Tag lang aufbahren: Montag St. Severin, Dienstag St. Pantaleon, Mittwoch St. Gereon, Donnerstag St. Peter. Am Karfreitag, es war inzwischen Anfang April, erreichte der Leichenzug Aachen und dort wurde Otto III. symbolträchtig an Ostern im Münster beigesetzt. Die Einbalsamierungstechniken waren inzwischen offensichtlich fortgeschritten. In den Quellen findet sich jedenfalls keine Klage wegen Geruchsbelästigung.
Wer sich für das Thema interessiert, dem sei die Habilitationsschrift von Romedio Schmitz-Esser empfohlen. "Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers". 763 Seiten Leichenkunde. Hat was.
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